Arjuna Fan Fiction ❯ Mondkinder ❯ Ein unerwartetes Wiedersehen ( Chapter 5 )

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Die nächsten 4 Wochen verliefen unproblematisch. Die Schule hielt beide Mädchen gehörig auf Trab und da Juna gerade eine mittlere Krise in der Beziehung mit ihrem Freund Tokio hatte, blieb ihr nicht viel Zeit, sich um Lia zu kümmern. Das störte die aber überhaupt nicht, da sie inzwischen zur Schulband gekommen war und jede freie Minute entweder mit Lernen für Prüfungen, Musikunterricht oder Bandproben angefüllt war. Die Wochenenden verbrachte sie entweder mit Sightseeing oder traf sich mit anderen Freundinnen.
Manchmal träumte sie wohl noch von Chris, aber tat das alles als Wunsch oder Fantasie ab. Sie wusste ja nicht, was aus ihm geworden war und ob er nicht inzwischen Japan wieder verlassen hatte. Adresse hatte sie ja keine von ihm und daher auch keine Möglichkeit, ihn zu kontaktieren. Telepathie wollte sie nicht anwenden, da sie in Gesprächen mit Juna herausgefunden hatte, dass diese auch latente telepathische Gaben hatte und davon mehr als erschreckt wurde. Insgeheim wagte sie es außerdem nicht, ihn zu kontaktieren, da sie eine gewisse Scheu empfand, es zu versuchen.
 
An einem Mittwoch - es waren inzwischen fast zwei Monate vergangen - kam Lia erst spät aus der Schule und noch später vom Geigenunterricht. Müde machte sie sich auf den Heimweg. Gedankenversunken spazierte sie einen Umweg, da sie die Natur noch etwas genießen wollte und merkte nicht, dass sich vor ihr ein Kampf abspielte, bis es zu spät war.
 
Dieser Raaja war besonders schwer zu besiegen. Er kämpfte und bewegte sich extrem schnell, so dass es schwer war, mit Gandeeva genau anzulegen. Kann das Vieh nicht einmal still stehen?', dachte Juna wütend und sprang dem Raaja in ihrer Gestalt Arjuna nach. Über ihr bemerkte sie Chris' Astralgestalt, die sie kritisch beobachtete. Was er wohl heute wieder alles auszusetzen haben wird an mir? Jedes Mal mäkelt er an mir herum und ich weiß nicht einmal wieso und wie ich es besser machen soll!'
Plötzlich bemerkte sie eine Gestalt, die mit weit aufgerissenen Augen wie angewurzelt dastand. Die hellen Haare und der Geigenkasten in der linken Hand machten klar, wer das war: Lia! O mein Gott! Wie ist sie hier hergekommen? Ich muss sie schützen!' Gesagt, getan.
Wild entschlossen stürzte sich Juna hinunter, stellte sich vor ihre Freundin, legte an und traf. Der Raaja löste sich mit einem Knall, der sie beide zu Boden warf, in Luft auf. Als Juna sich aufrappelte, trug sie wieder ihre normale Kleidung. Sie beugte sich zu Lia: „Lia-san, alles in Ordnung?“ Die Irin stöhnte nur leise, öffnete ihre Augen aber nicht. Juna legte ihr eine Hand auf die Stirn und versenkte sich geistig in Lias Körper. So weit scheint ihr nichts passiert zu sein. Hoffentlich ist die teure Geige nicht kaputt.' Als sie die Augen wieder öffnete, schwebte auch Chris über Lia. Er runzelte die Stirn und sah sie fragend an. „Ihr geht es soweit gut, glaube ich. Sie ist nur ohnmächtig, Chris-san. Nur, was machen wir jetzt mit ihr?“ - Nimm sie mit.' - „Was!? Ich dachte, das ganze soll geheim bleiben? Lia ist redseliger als meine Großmutter!“ - Das spielt jetzt keine Rolle mehr. Sie wird dichthalten, wenn ich sie darum bitte.' Juna starrte ihren Mentor ungläubig an: „Woher willst du dir da so sicher sein?“
Chris starrte ungerührt zurück und erwiderte mental: Weil sie meine Schwester ist. Vertrau mir, sie wird dichthalten!' Also zuckte Juna die Schultern, hob Lia hoch und stieg in den inzwischen gelandeten Helikopter, während Chris in seinen physischen Körper zurückkehrte.
 
Chris:
Endlich habe ich meine Schwester wieder gefunden! Ich hoffe nur, sie kann mir verzeihen. Sie hat immer schon Leuten ewig gegrollt und ich kann mir vorstellen, dass sie mir selbst jetzt noch böse ist.
Ich habe Juna gebeten, sie auf die Pritsche im Helikopter zu legen, damit sie gut liegt, bis sie wieder zu sich kommt. Cindy ist sofort die Wände hochgegangen und hat mich gefragt, was für einen Vogel ich habe, dass ich noch eine Wildfremde einfach so mitnehme. Ich habe ihr erklärt, was los ist, aber ich fürchte, sie wollte mich nicht verstehen. Ihre Eifersucht bringt sie sicher noch einmal ins Grab! So gern ich sie habe, es gibt Sachen, die mich an ihr wahnsinnig machen. Ich habe aber nicht die Kraft und die Zeit, mich ständig ihr zu widmen.
 
Hm, ich habe Lia ganz anders in Erinnerung. Das wird wohl daran liegen, dass ich in ihr noch immer das kleine Mädchen von damals sehe. Meine kleine, arme Lia! Ich habe ihr sehr wehgetan, als ich vor fast 6 Jahren Irland verließ, um der Avatar der Zeit zu werden. Ich hatte keine andere Wahl, doch wie hätte ich es ihr damals erklären können? Sie war ein kleines, wildes Mädchen, das mehr mit dem Wind lief, als dass es an ein Haus oder gar eine Stadt gebunden werden konnte. Sie hatte immer schon einen starken Willen und einen großen Drang nach Freiheit.
Ich war seit jeher ihre wichtigste Bezugsperson und ich war es gerne. Sie machte mich so stolz mit ihrem Temperament, ihrer Intelligenz und ihrer PSI-Begabung! In Konflikten war ich leider deswegen oft auch der einzige, der ihr Einhalt zu gebieten vermochte, wenn sie in Rage geriet.
 
Ob sie mich wohl in diesem zerrütteten Körper erkennt? Sie hat mich völlig anders in Erinnerung: Sie hat mit mir getanzt, wir sind um die Wette gelaufen, sind im Meer geschwommen oder die Klippen hinaufgeklettert. Das alles ist nun unmöglich - meine Position hat ihren Preis gefordert.
Sie wird mir sicher Vorwürfe machen, wie ich ihr das antun konnte und warum. Recht hat sie! Ich hätte es ihr damals doch erklären sollen, hätte sie verstehen lassen sollen, wie wichtig diese Aufgabe für unser aller Leben ist. Unser alter Lehrer sagte immer, dass es richtiger ist, einer opfert sich auf, als dass die ganze Gemeinschaft untergeht. Fragt sich nur, ob sie das zu jener Zeit verstanden hätte und ob sie es heute versteht, oder besser, verstehen will?
 
Nun sitze ich da in diesem verfluchten Rollstuhl und kann nur warten, bis sie aufwacht. So wie sie da liegt, sieht sie mit ihrem hellen Haar aus wie ein Engel. So ähnlich - und doch so unterschiedlich. Sie ist charakterlich alles, was ich nie war. Lebhaft, laut, wild, extrovertiert…. Sie hat mit ihrem Charme immer schnell Freunde gewonnen und die Tatsache, dass sie so rasch Junas Freundschaft gewonnen hat, spricht wirklich für sich.
Ihre Musikalität scheint noch die alte zu sein. Sie hat sogar ihre Geige nach Japan mitgenommen. Ich frage mich, ob das meine alte Geige ist, die ich ihr geschenkt habe, als ich fort ging. Ob sie wohl gerne spielt? Ach Quatsch, sicher spielt sie gerne! Wir haben als Kinder oft gemeinsam musiziert, oder ich habe sie begleitet, wenn sie gesungen hat. Wenn ich auch nicht singen kann, spielen kann ich!
 
Ach Lia! Ob du es verstehen wirst, wenn ich es dir zu erklären versuche?
 
Ein leises Stöhnen riss Chris aus seinen Gedanken. Sie bewegt sich!', schoss es ihm durch den Kopf. Er beschloss, sich fürs erste einmal im Hintergrund zu halten und zu sehen, wie sich die Situation entwickelte. Kein Grund, Lia früher in Unruhe zu versetzen, als nötig.
 
Langsam nahm ihre Umgebung Konturen an. Wo war sie? Was war passiert? Wieso tat ihr der Kopf so weh? Als ihr Blickfeld klarer wurde, sah sie Juna über sich gebeugt und setzte sich abrupt auf.
„Juna! Was geht hier vor? Wieso bin ich in einem Helikopter? Was zum Teufel war dieses komische Vieh, gegen das du gekämpft hast?“
Juna wusste nicht recht, wie sie es ausdrücken sollte. Wie sollte sie nun Lia erklären, was hier vorging? Tja, es gab hier nur einen Weg: Die Flucht nach vorne.
„Wir haben dich zu deiner eigenen Sicherheit mitgenommen. Es wäre zu auffällig gewesen, dich inmitten von Spuren des Kampfes gegen den Raaja zurückzulassen. Außerdem wollte - jemand, dass ich dich mitnehme. Du hast mich in meiner Gestalt Arjuna gesehen, die ich annehme, wenn ich gegen die Raaja kämpfe. Ich bin nämlich - so verrückt sich das jetzt sicher für dich anhört - der Avatar der Zeit.“ Lia sah auf und runzelte die Stirn: „Avatar der Zeit? Was ist das bitte? Außerdem, hat jemand ein Aspirin für mich? Ich hab das Gefühl, mein Kopf zerspringt!“ Juna setzte sich neben ihre Freundin, während Cindy auf ihr Nicken unauffällig ein Aspirin suchte, und holte tief Luft:
„Vor etwa einem Jahr hatten mein Freund Tokio und ich mit seinem Motorrad einen Unfall. Tokio kam mit ein paar Kratzern davon, aber ich war so schwer verletzt, dass ich klinisch tot war. In der Zwischenwelt, in die man kommt, wenn man zwischen Leben und Tod ist, traf ich einen Jungen namens Chris. Er bot mir an, mir mein Leben zurückzugeben, aber nur unter einer Bedingung: Ich sollte ihm und seinen Leuten helfen, die Erde vor den Raaja zu retten. Ich stimmte zu, weil ich es nicht ertragen konnte, meinen Freund und meine Mutter allein zu lassen, und kehrte ins Leben zurück. In demselben Helikopter, in dem wir jetzt sitzen, erhielt ich den Stein, der jetzt an meiner Stirn ist und damit PSI-Fähigkeiten. Leider war mir der gute Chris bis jetzt keine sonderlich große Hilfe, wenn es darum ging, herauszufinden, was ich genau mit diesen Raaja machen soll und wie ich mit meinen Fähigkeiten umzugehen habe. - Wir arbeiten mit einer Organisation namens SEED zusammen, deren Aufgabe darin besteht, die Bewegungen der Raaja zu überwachen und mit Hilfe von Telepathen und Medien, die diese als einzige wirklich sehen können, diese zu bekämpfen.“
Lia fragte verblüfft: „Und wer ist dieser Chris?“ Juna schluckte. Ihre Freundin hatte eine Gabe, direkt zum Thema zu kommen.
„Tja, in unserer Organisation ist er ein TI-1 Telepath, das heißt, er hat starke parapsychische Fähigkeiten. Aber du würdest es ihm sicher nicht ansehen, denn er sitzt im Rollstuhl und kann nicht sprechen. Ich weiß nicht viel über ihn und er ist auch, wenn er telepathisch spricht', nicht wirklich redselig. Über sich selber spricht er überhaupt nicht. Wenn du meine Meinung über ihn hören willst…“
Plötzlich wurde sie von Cindy unterbrochen: „Da hast du dein Aspro, Blondchen. Und du halt die Klappe über Chris, Juna, du verstehst überhaupt nichts von der ganzen Sache! Ich verstehe wirklich nicht, wie er sich an so jemanden binden kann!“ Sie schnaubte abfällig und verschwand im hinteren, halbdunklen Teil des Helikopters, wo sie sich auf eine andere Pritsche plumpsen ließ. Verwundert betrachtete Lia das freche Mädchen. Sie wunderte sich, wie in aller Welt man zu orangen Haaren, bernsteinfarbenen Pupillen und solch einem scheußlichen rosa Kleid kommen konnte. Ihrer Meinung nach hatte das Mädchen eine leichte Geschmacksverwirrung, was Kleider anging.
Seufzend trank sie das Glas leer und wartete ein wenig, bis ihr Kopf wieder klar war und sie ihre Umgebung scannen konnte. 1, 2, 3 Telepathen in einem Raum? Na das ist ja eine Überraschung. Eine ist Juna, klar, die zweite ist diese kleine, unverschämte Person. Aber wer ist Nummer 3?'
 
Ächzend stand sie auf und streckte sich, während sie sich umsah. „Netter Helikopter, muss ich schon sagen. Sehr geräumig. Aber wofür? Ein gut ausgebildetes Medium oder eine ténéresteis bräuchte so etwas nicht!“ Alle stutzten. „Eine was?“ - „Ténéresteis, also Bewahrerin in eurer Sprache. In meiner Heimat halten solche Frauen oder Männer - nur dann heißen sie ténérezu - oft die Steinkreise der Alten synchron. Natürlich ist das eine geheime Sache, aber unter Telepathen ist es kein Geheimnis. Mein Bruder Chris war auch einer, bis er fort ging. Mein Lehrer meinte einmal, er wäre der stärkste, der ihm bis jetzt untergekommen ist. Natürlich hat Chris für diese herausragenden Fähigkeiten bezahlt. In meiner Familie ist es nämlich so, dass mit starkem Psi meist bestimmte körperliche Merkmale verbunden sind: extrem helle Haare und ein zarter Körperbau. Sind die Fähigkeiten sehr, sehr stark, dann kommt leider oft ein rezessives Gen zum Tragen, das verursacht, dass diese Menschen dann stumm sind. So etwas kommt nur alle paar Generationen vor und in unserer Altersgruppe ist Chris einer dieser Menschen.“ Juna und Cindy starrten sie an und in ihren Gesichtern meinte Lia einen seltsamen Ausdruck zu sehen. „Hab ich was Falsches gesagt?“ Die beiden sahen sich an und fixierten dann eine halbdunkle Ecke, die Cindys gegenüberlag. Lia starrte verwirrt auch dort hin, konnte aber nichts Außergewöhnliches entdecken. „Was habt ihr? Da ist nichts!“
 
Da stand Cindy auf und ging auf die Ecke zu. Es schien wie ein seltsames Spiel aus Licht und Schatten, als sich aus dem Halbdunkel ein Schatten manifestierte. Ah, also das muss dann Nummer drei sein. Hätte ich doch gleich draufkommen können, dass er oder sie sich getarnt hat!', dachte sie ärgerlich.
Cindy ging in die Ecke und schien kurz mit den Schatten zu verschmelzen. Da wusste Lia, dass hier ein Experte am Werk war.
Dann schälte sich ein Rollstuhl, von einer sehr säuerlich aussehenden Cindy geschoben, mit einem Bündel Mensch darin aus dem Halbdunkel. Juna schien dies nicht zu erstaunen, sie schien daran gewöhnt.
 
Lia kniff die Augen zusammen, um genauer sehen zu können und nutzte ihre eigenen Kräfte, um die letzten Reste der Tarnung zu beseitigen:
Im Rollstuhl saß zusammengesunken ein zierlicher junger Mann mit weißblondem, halblangem Haar. Nur eine Haarsträhne war länger als alle anderen. Er schien völlig kraftlos, sein Kopf war auf die Brust gesunken und er war angeschnallt, damit der Oberkörper halbwegs aufrecht blieb. Die dünnen Hände lagen in seinem Schoß. Der junge Mann trug eine Art graues Schultertuch, das mit einer dunkelroten Brosche zusammengehalten wurde. Darunter schien er einen grauen Overall mit Dreiviertelärmeln zu tragen, was ärgerlicherweise durch das schlechte Licht und die Decke über seinen Beinen nicht gut zu erkennen war.
Von seinem ausgemergelten Körper führten mehrere Kabel oder Schläuche weg, die mit dem Rollstuhl verbunden waren und Lia vermutete, dass sie in irgendeiner Art der Überwachung seiner Lebensfunktionen dienten. Auffällig waren weiters seine Ohrringe: Am rechten Ohr hatte er einen kleinen roten Stecker, während das linke Ohr von einem großen, runden Ring geziert wurde, durch den auch zwei der Kabel führten. Um den Hals hatte er ein Lederband, an dem ebenfalls ein roter Stein baumelte.
Der Rollstuhl hielt knapp zwei Meter vor ihr, dann erklang synchron mit Cindys plötzlich monoton gewordener Stimme eine belustigt klingende Stimme in ihrem Geist: Ténérezu bin ich schon lange nicht mehr, aber sie hat recht. Für vier Jahresfeste hat es gereicht. Die kleine Närrin hier hat gute Augen, auch wenn ich von Studenten des alten Wissens in der Norm mehr erwarte!' Cindy regte sich und sagte spöttisch: „Das stammt nicht von mir, sondern von Chris, aber ich stimme ihm zu! Du hast echt Tomaten auf den Augen, er hat dich die ganze Zeit beobachtet!“
 
Lia fauchte zurück: „Ja und? Ich hab auch was Besseres zu tun, als mich durch anderer Leute Tarnung zu schummeln, vor allem wenn ich Kopfschmerzen habe! Und bitte, lass ihn alleine reden, telepathische Signale quer durch den Raum schlagen mir derzeit den Kopf ein!“
Wie du willst, Lia. Wir können uns auch so unterhalten, auch wenn dann außer Juna, Cindy, dir und mir keiner mitbekommen wird, was ich sage.' - „Das ist mir eigentlich absolut egal, Mister, momentan interessiere ich mich ohnehin eher für meinen Schädel! - Woher wissen Sie eigentlich meinen Namen? Der geht Sie eigentlich herzlich wenig an!“
Da hob der Fremde den Kopf und sah ihr direkt ins Gesicht. Lia wurde blass. Sie sah in ein blasses, schmales Gesicht, in dem tief liegende, türkise Augen leuchteten. Die Augen des Fremden schienen uralt, verzweifelt und leidend, gleichzeitig jedoch wissend, sanft, liebevoll und fröhlich. Er schien bis auf den Grund ihrer Seele blicken zu können. Erkennst du mich nicht, mo cailín? Weißt du wirklich nicht, wer ich bin?'
„Nein. Sollte ich Sie kennen? Ich vermute mal, Sie sind der Typ, von dem Juna vorhin geredet hat, dieser TI-1 oder wie immer Sie sich nennen. Von meiner Warte aus könnten Sie auch Fritzi heißen, das spielt für mich eigentlich keine Rolle!“, erwiderte Lia ärgerlich. Cindy, Juna und die ebenfalls anwesende SEED-Expertin Teresa Wong tauschten Blicke. So hatte noch keiner mit Chris zu reden gewagt. Dem ehemaligen Avatar der Zeit brachte jeder großen Respekt entgegen.
Willst du jetzt wissen, wieso ich deinen Namen kenne, oder nicht? Und nein, ich bin nicht durch deine Schilde durch, ich halte mich an die Tabus der Telepathen!'
„Täte mich schon interessieren, ja. Ein wildfremder Krüppel kennt meinen Namen!“, sie lachte spöttisch. „Hat das schon einmal wer gehört? Ich weiß, ich bin für die Leute hier mit meinen hellen Haaren eine Attraktion, aber das wäre mir neu!“ Die Anwesenden atmeten zischend ein. Wie würde Chris darauf reagieren?
 
Lia Eilís Hawken, ich wähne mich zu erinnern, dass ich dir schon vor Jahren eingebläut habe, dass man seinen Ärger unter Kontrolle zu halten hat. Du sendest an jeden Telepathen im Umkreis! - Ich kenne deinen Namen, so wie du auch meinen kennen wirst, wenn du ihn hörst.', er fixierte sie streng.
„Na dann mal raus damit, mein Herr!“, lachte sie verächtlich.
Mein Name ist Chris Hawken. Dieser Name dürfte dir als der deines verschollenen Bruders bekannt sein, oder irre ich mich?' Lia rang nach Luft und wurde noch blasser. „Woher wissen Sie das? - Nein, Sie können nicht Chris sein! Das muss eine Verwechslung sein, er sah ganz anders aus! Und im Rollstuhl saß er bestimmt nicht!“
Willst du einen Beweis? Den kannst du haben. Hast du noch immer deine alte Geige?' Lia nickte verstört. Bring sie mir!' Das junge Mädchen gehorchte, ging zu ihrem Geigenkasten, der neben der Pritsche stand, und nahm die Geige heraus. Das wertvolle Instrument war in Top-Zustand und stets perfekt gestimmt.
Der junge Mann nahm das Instrument in seine Hände, fuhr liebevoll mit den Fingern darüber, legte es ans Kinn und zupfte die Saiten an. Anerkennend nickte er. Perfekt gestimmt. Nun, hat diese Geige ein Merkmal, das nur dir und deinem Bruder bekannt ist?'
Erbost gab Lia zurück: „Natürlich, aber glauben Sie nicht, dass Sie das aus meinem Geist lesen können! Das wird Ihnen nämlich nicht gelingen!!“ Sie stützte die Hände in die Hüften. Ihr Gegenüber lächelte nur, fuhr den Steg entlang, bis seine sensiblen, dünnen Finger kleine Einritzungen im Griffbrett ertasteten. Er sah auf: „Diese Ritzungen habe ich für dich mit meinem Taschenmesser eingeritzt, weil du dir manche Positionen und Griffe der 2. Lage nicht merken konntest. Siehst du hier die Schnitte?' Lia wurde schwarz vor Augen. Das war ein Detail, das nur Chris wissen konnte, und der TI-1 Telepath hatte ihren Geist nicht einmal ansatzweise berührt! Sie merkte nicht mehr, wie sie lautlos zu Boden sank.
 
Chris:
Ich hatte nicht erwartet, dass es so schwer werden würde, sie von meiner Identität zu überzeugen. Habe ich mich denn tatsächlich so sehr verändert? Lias Sarkasmus hat auch nicht wirklich geholfen. Sie war zwar immer schon aufbrausend und mit Kopfschmerzen absolut ungenießbar, aber so hab ich sie noch nicht erlebt!
Allerdings, wenn sie weiterhin so eine scharfe Zunge hat, kann ich mir lebhaft vorstellen, dass sie und Cindy mehr als einmal aufeinanderprallen werden.
 
Der Schock, mich so plötzlich wieder zu sehen, war ihr wohl am Ende einfach zu viel. Ich habe dann Juna und Teresa gebeten, sie auf die Pritsche zu legen. Ich bin anschließend zu ihr hingefahren und habe ihr eine Hand auf die Stirn gelegt. Ich habe meist kalte Hände und mit ein wenig Energie verbunden, sollte sie dadurch bald wieder zu sich kommen. - Ach, Lia, Lia, wie soll ich das nur wieder gut machen und all die verlorenen Jahre aufholen?
 
Das erste, was sie spürte, war eine kühle, sanfte Hand auf ihrer Stirn. Sie stöhnte leise und versuchte, die Augen zu öffnen. Eine beruhigende, unheimlich vertraute Stimme in ihrem Geist sagte: Nein, bleib noch liegen. Ist schon gut, vertrau mir. Du bist ohnmächtig geworden und solltest es jetzt daher besser langsam angehen lassen.' Also ließ sie sich ein wenig treiben. Die Hand auf ihrer Stirn war die reinste Wohltat für ihren schmerzenden Kopf.
Als ihr Kopf wieder klar wurde, fielen ihr schlagartig alle Details wieder ein. Abrupt riss sie die Augen auf, setzte sich auf und kroch so weit weg von ihrem unheimlichen Gegenüber wie es auf einer engen Pritsche nur möglich ist, und stammelte: „Das kann nicht sein! Nein, das kann es nicht! Bitte, sag, dass es nicht wahr ist! Aua, mein Kopf!“ Chris sah sie belustigt an. Ich habe dir doch gesagt, du sollst es langsam angehen lassen. Aber nein, Fräulein Hawken macht genau das Gegenteil!' Lia saß weiterhin völlig verstört da und sah ihn an. Es konnte nicht wahr sein! Dieses Bündel Mensch im Rollstuhl sollte ihr geliebter Bruder Chris sein? Aber woher hätte er denn sonst das mit der Geige und der Zurechtweisung für ihr Temperament wissen können? Auf ihr Gedächtnis hatte keiner zugegriffen. In ihrem Kopf drehte sich alles, nur eine Frage kristallisierte sich heraus: „Warum?“ Tränen rannen ihr über die Wangen. „Warum hast du mich damals allein gelassen? Was ist mit dir passiert?“
Sie zog die Knie zu sich und weinte leise vor sich hin.
Nach einigen Minuten legte Chris ihr eine Hand auf die Schulter. Lia, ich will versuchen, dir alles zu erklären, so gut ich kann. Aber du musst mir versprechen, zuzuhören, und nicht gleich meine Worte wütend wegzuwischen. Hörst du?' Lia sah ihn wütend an: „Diese Erklärung hätte ich mir vor 5 Jahren gewünscht! Meinst du nicht, dass sie jetzt ein bisschen sehr spät kommt!? Weißt du überhaupt, was du mir angetan hast? Deinetwegen muss ich im Kreis als Ténéresteis agieren, obwohl das dein Platz wäre! Deinetwegen war ich so lang allein! Kannst du dir das überhaupt vorstellen!? - Aber nein, der Herr muss ja nach Japan - als ob daheim in Éire nicht genug zu tun wäre für einen ausgebildeten Ténérezu!“
Sie war von Satz zu Satz lauter geworden und nun sprang sie auf und rief: „Hast du kein Herz, kein Mitleid mit deiner Schwester, die sich Jahre um dich gegrämt hat? Deine Gesundheit ist ruiniert nur für irgendein hehres Ideal, was vermutlich allen anderen unverständlich ist! Ich sitze daheim, übernehme Aufgaben, die überhaupt nicht für mich gedacht waren und der alte Ténérezu muss im Kreis stehen und die Energie synchron halten, obwohl er auf dich, seinen Nachfolger, gehofft hätte, und dass er seinen Posten an dich übergeben kann! Ich begreife nicht, wie er dem zustimmen konnte und wie Mutter es konnte! Schämst du dich nicht, Chris? Schämst du dich nicht!?“ Sie holte mit der Hand aus und wollte ihrem Bruder eine Ohrfeige verpassen, aber blitzschnell fasste der Bursch nach Lias Handgelenken, umfasste diese mit eisernem Griff und zog das Mädchen zu sich heran. Sie wehrte sich kurz, sackte aber dann wild schluchzend an seine Brust.
Chris umarmte seine jüngere Schwester fest und sie erschlaffte, immer noch weinend, in seinem Griff.
Es war ihm nun absolut egal, was Juna, Cindy oder sonst jemand der anderen von dieser Szene dachten. Er war nur froh, dass die alte Methode, Lia zu beruhigen und ihre Wut unschädlich zu machen, immer noch funktionierte. Wer wusste schon, was sie hätte anrichten können!
Er hielt seine Schwester einfach fest im Arm, strich ihr beruhigend übers Haar und begann, leise telepathisch auf sie einzureden, ihr zu erklären, sie um Verzeihung zu bitten. Anfangs schien es, als würde sie nicht reagieren und ihn ignorieren, aber irgendwann in diesen unendlich lang scheinenden Minuten kam endlich ein schwaches Nicken. Sie hatte ihn zumindest zur Kenntnis genommen. Er konnte nicht erwarten, dass sie ihm so bald verzieh, aber ein Anfang war gemacht.
Wenn Lia den Körperkontakt akzeptierte und auch von sich aus den telepathischen Rapport aufrechterhielt, dann war schon viel getan. Das war fürs erste genug. Aber er wusste auch, dass das nur der erste Ausbruch gewesen war und bei Gott noch nicht alles. Er konnte in seiner Schwester so viel aufgestauten Kummer und Schmerz fühlen, so viel Wut und Einsamkeit, dass es ihm in der Seele wehtat. Da wusste er, dass sie sicher noch mindestens einmal explodieren würde. Sie beide würden viel zu diskutieren haben, sobald Zeit war, Lia kohärent dachte und nicht wieder die Wände hochzugehen drohte.
 
Für Lia war es ein seltsames Gefühl, nach so vielen Jahren wieder in den Armen ihres Bruders zu liegen. Sie war einfach in die Luft gegangen und er hatte sie mühelos abgefangen, so, wie er es immer getan hatte, und an seine Brust gezogen und umarmt. Sein Gewand war weich und warm und sie fühlte sich so geborgen wie schon lange nicht mehr. War es das, was ihre Geschwisterbeziehung immer ausgemacht hatte? Diese Geborgenheit und dieses wortlose Verstehen?
Als Chris dann zu reden anfing, wollte sie ihn am Anfang ignorieren, aber ihre Wut flaute ab und machte ihrem normalen, klaren Verstand wieder Platz und sie begriff, dass er sich große Mühe gab, ihr alles zu erklären und sich bei ihr zu entschuldigen. Irgendwann war sie dann auch so weit, zu nicken, als er sie fragte, ob sie verstanden hätte, was er gesagt hatte. Es reichte ihr momentan aber vollauf, einfach zu wissen, dass er da war. Wie und warum, das spielte in diesen Minuten keine Rolle mehr.
 
Eine Stimme unterbrach das Schweigen, das sich als Nachhall der heftigen Emotionen gebildet hatte: „Wir sind gleich bei der Basis, bereitmachen zur Landung!“ Lia sah auf und meinte: „Ich glaube, ich sollte hier runter. So verrenkt, wie ich da auf deinem Schoß sitze, bekomme ich sonst noch Kreuzschmerzen. Von dem Plumpser über die Armlehne deines Rollstuhls hab ich mir, glaub ich, ein paar schöne blaue Flecken geholt!“ Chris drückte sie noch einmal fest an sich, dann stand sie mit Junas Hilfe wieder auf. „Mein Gott, ich muss ja furchtbar aussehen. Total verheult, da wird sich deine Mutter sicher freuen, Juna-san! Die wird glauben, ich bin unter die Räuber gekommen!“ Juna grinste: „In der Basis gibt es Toiletten, da kannst du dich waschen und wieder ansehnlich herrichten. Aber du hast eine hübsche Szene geliefert, wir haben uns alle gewundert, ob Chris dich jetzt erschlägt oder nicht!“
„Erschlägt!? Wieso erschlägt?“, Lia sah ihre Freundin verdutzt an. „Chris würde mir nie auch nur ein Haar krümmen!“
Juna kicherte: „Na ja, normalerweise würde es keiner von uns wagen, sich mit dem ehemaligen Avatar der Zeit anzulegen. Chris anzuschreien, so wie du es gemacht hast, wäre eine höchst gefährliche Sache gewesen. Wenn wir nicht durch deinen plötzlichen Ausbruch so verblüfft gewesen wären, wärest du vermutlich schneller in Handschellen da gesessen, als du hättest schauen können und wärest du nicht seine Schwester, ich vermute, Chris hätte sich ebenfalls gewehrt. Eine Handbewegung hätte genügt. Mein Freund Tokio hat schon einmal mit Chris' Art, sich zu verteidigen, Bekanntschaft gemacht. Er ist nachher einige Meter weiter weg am Boden gelegen.“ Lia kicherte nun auch. „Tja, das ist das Problem, wenn ein Außenstehender versucht, sich mit einem Telepathen anzulegen. Du musst mir unbedingt mal erzählen, was er angestellt hat, das war sicher lustig!“
 
Cindy fand es erstaunlich, wie schnell die Stimmung des fremden Mädchens, das offenbar Chris' Schwester war, umgeschlagen hatte. Von wütend und verzweifelt zu fröhlich und humorvoll. Interessante Person!', dachte sie. Die ist ja Chris absolut unähnlich. Wie die nur verwandt sein können!'
Aber noch ein anderes Gefühl beschlich sie: Eifersucht. Ihr wurde allmählich klar, dass dieses Mädchen im Begriff war, Chris' Herz in Beschlag zu nehmen und seine Gefühle zu berühren.
 
In der SEED-Basis war die Verwunderung groß, als eine weitere Person aus dem Helikopter kletterte. Aber die Leute hüteten sich, Chris oder Cindy darauf anzusprechen. Juna meinte, dass es wohl besser für sie wäre, wenn Lia und sie jetzt gingen, da sie schon stark verspätet waren. Sie drehte sich zu Chris um und sagte: „Meine Mutter wird sich um Lia und mich schon große Sorgen machen, wir sind mehrere Stunden überfällig. Wo sind Lias Sachen, zumindest ihre Geige wird sie brauchen, Chris-san? Vor allem, wie kommen wir heim? Es ist fast Mitternacht!“
Cindy deutete auf Lia, während ihr monotoner Tonfall darauf hinwies, dass sie Chris' Worte für alle verständlich wiedergab: „Sie hat ihr Instrument und ihre Tasche. Es wäre sehr schade um das teure Ding, würde es zerstört. Was die Art des Heimkommens betrifft: Ein Auto wird euch mitnehmen.“
 
Im Auto schaute Lia in ihren Rucksack. „Hey, das war vorher noch nicht drin!“ Juna beugte sich vor: „Was denn?“ - „Kekse! Meine Lieblingskekse! Da hat sicher Chris die Hände im Spiel gehabt, er liebt diese Kekse nämlich auch und er weiß, dass ich für diese Kekse sterben könnte!“ Sie grinste glücklich und die Mädchen machten sich hungrig über die unvermutete Köstlichkeit her. Mit vollem Mund murmelte Lia grinsend: „Ich glaube, Chris hat sich in der Menge der Kekse etwas verkalkuliert. Es sind viel zu wenige!“ - „Was du nicht sagst!“, lachte Juna. „Er hat wohl nicht mit unserem Appetit gerechnet!“ - „Das weniger, aber ich glaube, er hat nicht geahnt, dass wir beide diese Kekse gern essen!“ Beide Mädchen brachen in Gelächter aus.
 
Es war 0.45 Uhr, als sie endlich daheim eintrafen. Sie waren erschöpft und ausgelaugt. Juna vom Kampf, Lia von den Emotionen. Dennoch gab es noch einen Spießrutenlauf: Junas Mutter. Sie stellte eine Menge besorgter Fragen und es war für die zwei sehr schwer, ihr glaubhaft zu machen, dass man sich noch mit Freunden zu einer Lernsession getroffen und sich bereits ein Abendessen organisiert hatte.
Aber im Endeffekt konnten sie sich ins Bett flüchten und waren im Nu eingeschlafen.
 
Mein Mädchen